(Scheitern + Lernkurve = Wachstum)2 oder das Geschenk eigene Grenzen zu akzeptieren

Es war einmal,..

Mit einem Segelfluglehrer als Vater war schnell klar wo ich meine Kindheit verbrachte. Ja, ich war ein „Flugplatzkind“, lernte auf diesem riesigen Spielplatz das Laufen, durfte mit 10 Jahren Traktor und Auto fahren und begann dann endlich mit 15 Jahren selbst mit dem Segelfliegen. Fliegen war und ist meine grösste Leidenschaft, so war es nicht verwunderlich, dass ich nach vielen Jahren als Streckenpilot auch Fluglehrer wurde. Neben der eigentlichen Ausbildung von Neupiloten leitete ich am liebsten die Schnupperkurse. „Fussgänger“ durften nach einer theoretischen Einführung auf dem vorderen Pilotensitz unter meiner Anleitung am Doppelsteuer, selbständig fliegen. Meine primäre Aufgabe war es das Segelflugzeug zu starten um es dann in die Hände des Aspiranten zu übergeben. Erstaunlicherweise schafften es die meisten Neulinge den Vogel bis kurz vor die Landung in die Pistenachse zu bringen, so dass ich nur noch den Endanflug bzw. die Landung übernehmen durfte. Das breite Grinsen in den Gesichtern der Teilnehmer werde ich nie vergessen.

Der Neubeginn

Segelfliegen ist für mich nach wie vor die eleganteste Art der fliegerischen Fortbewegung, jedoch war ich nach 22 Aktivjahren in meinen eigenen hohen Erwartungen gefangen. Zudem drückten mir die politischen Rahmenbedingungen (Luftraum-Problematik, EU-Vorschriften, usw.) die Luft weg und meine Motivation sank von Jahr zu Jahr. Nachdem ich den Steuerknüppel 2005 definitiv an den Nagel gehängt hatte, passierte zunächst einige Jahre nichts was mit der Fliegerei zu tun hatte. Offen gestanden war es wohl das Red Bull X-Alps Rennen, welches mein Interesse am Gleitschirm-Sport weckte. Erst im November 2013 sollte die Zeit reif sein, fliegerisch ein neues Kapitel aufzuschlagen. Nachdem ich bei der Flugschule Ostschweiz die Ausbildung innerhalb von 10 Monaten erfolgreich abgeschlossen hatte, freute ich mich darauf selbständig loszuziehen und neue Fluggebiete kennenzulernen. Der Hike & Fly Virus zirkulierte zwar bereits in meiner Blutbahn, hatte sich jedoch noch nicht in meiner DNA installiert. So erlebte ich die ersten 2 Gleitschirm-Jahre entspannt und ohne Zwischenfälle.

An einem Freitag im September

Es war der 11.September 2015 - ich war geschäftlich im Kanton Appenzell unterwegs und hatte meine Ausrüstung im Auto liegen. Mein Plan war noch „schnell“ einen Feierabendflug vom Kronberg zu unternehmen, um dann anschliessend an der Geburtstagsfeier meiner Schwiegermutter einzuschlagen. Kurze Zeit später stand ich auf dem West-Startplatz und beobachte die Windsituation. Dieser kam korrekterweise aus Westen, wechselte jedoch immer wieder die Richtung. Am Kronberg ist es bei einer Druckdifferenz von < 4 hPa (bei leichter Föhntendenz) in der Regel problemlos fliegbar, jedoch beschlich mich an diesem Tag ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Ich entschied mich dazu den Schirm schon einmal auszulegen und die Situation noch etwas zu beobachten. Es sei noch erwähnt dass zu diesem Zeitpunkt keine anderen Piloten zugegen waren. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass in dieser Verkettung von Hinweisen jederzeit ein Rückzug möglich gewesen wäre. Da sich der Wind am Startplatz seit 5 Minuten stabilisiert hatte, entschied ich mich für den Start. Dieser gelang problemlos, doch bereits beim Überfliegen der ersten Baumreihen, kassierte ich einen heftigen Klapper. Dieser fiel so heftig aus, dass ich mich blitzschnell in einer steilen Links-Rotation wieder fand und erst nach einer Drehung von ca. 270 Grad den Flügel stabilisieren konnte. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich für den Weiterflug nicht mehr genug Flughöhe haben würde und somit meine erste Baumlandung unausweichlich wäre. Ich erinnere mich noch genau daran wie ruhig ich meine Lage zur Kenntnis nahm und dachte: „Nun gibt es also eine Baumlandung,..“ Mein Schirm verfing sich in der Krone einer Föhre und schleuderte mich ein Stockwerk tiefer in das Geäst. Ich fand mich stehend auf einem Ast und hielt mich mit den Händen an einem weiteren, als ob mich jemand dort hineingestellt hätte. Ein kurze Analyse meiner Situation ergab folgendes Ergebnis: Ok, das war eine Baumlandung. Bin unverletzt. Wie komme ich hier runter?

Ich befand mich ca. 15 m über dem Waldboden, unter mir jede Menge Äste welche bis fast nach ganz unten als Abstiegshilfe zu erkennen waren! Deshalb missachtete ich die erste wichtige Regel und trennte mich von meinem Sitzgurtzeug. Da ich nicht Schwindelfrei bin, kletterte ich mit leicht zitternden Knien von Ast zu Ast nach unten und stand kurz darauf in der Waldlichtung direkt an einem Wanderweg. Mein Schirm hing noch oben in der Baumkrone, ich sollte doch zur Geburtstagsfeier und überlegte was ich nun tun sollte. In TV-Quiz-Sendungen dürfen die Kandidaten jemanden anrufen, also wählte ich die Handy-Nummer von meinem ehemaligen Fluglehrer. Auf meine Frage was zu tun sei, empfahl er mir die Rega zu informieren, damit kein Alarm ausgelöst würde. Der nette und hilfsbereite Mensch in der Zentrale avisierte auf mein Einverständnis auch die Bergwacht in Appenzell.
Es würden 2 Spezialisten kommen und mir den Schirm vom Baum bergen. Zudem meldete ich mein Missgeschick per SMS an meine Frau als Entwarnung dass es mir gut ginge und als Vorwarnung dass ich das Fest nicht rechtzeitig erreichen würde! Inzwischen war der Akku von meinem Mobile fast leer, so entschied ich mich zur Bergstation zu laufen um dort auf die Bergwacht zu warten und ein passendes Ladegerät mit Steckdose zu finden. Als die beiden Männer der Bergwacht eintrafen, marschierten wir zum besagten Baum zurück. Ich hatte wohl die höchste Föhre in der Umgebung ausgewählt! Na Klasse! Einer kletterte nach oben und machte sich an der Baumkrone zu schaffen, der zweite sicherte. Ich war sehr beeindruckt von diesen mutigen jungen Burschen und sehr dankbar für Ihre tolle Unterstützung. Als der Schirm endlich wieder am Boden lag, zog noch ein Gewitterschauer über uns hinweg. Wir stapfen zurück in die Bergstation und setzen uns ins Restaurant. Nass aber glücklich reflektierten wir den erfolgreichen Einsatz, tranken zusammen noch einen Kaffee bevor es mit der letzten Gondel talwärts ging. Als ich das Fest meiner Schwiegermutter betrat, muss ich schmunzeln. Wenn Ihr wüsstet, dachte ich für mich, was ich in den letzten Stunden (welche zum Glück nicht meine letzten sein sollten) erleben durfte. Das Fest war schön, die Kratzer bald verheilt, der Schirm repariert. Dieser flog beim ersten Flug nach der Reparatur wieder tadellos.

Da stimmt etwas nicht!

Doch nach dem Zwischenfall stimmte etwas ganz und gar nicht mehr! Bei jeder Luftbewegung, jedem Schaukeln fühlte ich mich unwohl. Ich konnte danach das Fliegen nicht mehr entspannt geniessen, sondern überlegte permanent wie ich den Retter werfen würde, falls etwas schief gehen sollte! Mir wurde klar, dass ich an die Aufarbeitung dieser Erfahrung gehen musste. Dazu schrieb ich einen Bericht in dem ich ehrlich und so detailliert wie möglich alle Aspekte zu erfassen versuchte. Schliesslich ging es darum eine Antwort zu den offenen Fragen zu finden. Ausserdem sprach ich mit Freunden und meiner Frau über mein Scheitern und dessen Folgen. Als mir klar wurde, dass neben allen Parametern, auch das Bauchgefühl zur Entscheidungsfindung beitragen darf, ja quasi das Vetorecht besitzt und jederzeit Stop sagen kann, war mein Ziel erreicht. Dazu folgendes Zitat: „Wer abbricht ist nicht gescheitert, sondern hat im Normalfall eine rationelle Entscheidung getroffen. Manchmal spielt auch die Psyche nicht mit oder man hat, ganz banal, einen schlechten Tag“  Quelle: www.alpinschnecke.at

Wachstum durch Scheitern
Wäre ich am 11.September 2015 nicht in den Baum „gelandet worden“, hätte ich in der Zeit danach mein inneres Frühwarnsystem nicht verfeinern können. Dieses „Auseinandersetzen mit mir selbst“, ohne dabei Meinungen anderer als „meine Wahrheit“ anzunehmen, war die Basis um mich in vielen Solo-Hike & Fly Touren besser kennenlernen zu können. Heute achte ich auf meine Körpersignale und versuche diese Informationen mit der aktuellen Situation vor Ort d.h. Wetter & Start-Anspruch, meinem körperlichen und psychischen Zustand, sowie meiner Erfahrung abzugleichen. Steht das Ergebnis auf „go“, kann ich zu 100% hinter dieser Entscheidung stehen und dann mit Zuversicht starten oder bei einem „no go“ meine 7 Sachen wieder zusammenpacken bzw. eine Alternative ausarbeiten. Hike & Fly, d.h. des Besteigen eines Berges und das anschliessende knieschonende Abgleiten zurück ins Tal ist heute meine grösste Leidenschaft.

Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better
Quelle: Samuel Becketts

Daniel Bandemehr
www.kundenwerk.ch

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